Mittwoch, 16. März 2016

Bergman Frühwerk : Kris SE 1946




Eine kleine, idyllische Stadt in Schweden. Die gerade 18 gewordene Nelly (Inga Landgré) lebt in einfachen Verhältnissen bei ihrer Ziehmutter Ingeborg (Dagny Lind), die sich als Klavierlehrerin ihren Unterhalt verdient. Doch die Idylle ist getrübt als Nellys leibliche Mutter Jenny (Marianne Löfgren) zu Besuch kommt. Jenny ist wohlsituierte Inhaberin eines Schönheitssalons in der nahen Großstadt. Als sie Nelly, mit einer Stelle in ihrem Salon, ein besseres und finanziell abgesichertes Leben verspricht, bringt dies die zudem noch schwer erkrankte Ingeborg in Verlegenheit und stürzt sie in eine psychische Krise. Nelly, die keinerlei Zukunftsaussichten in der Kleinstadt zu erwarten hat, ist hin und hergerissen. Einerseits angezogen von der verführerischen Materialität, die ihre Mutter Jenny ausstrahlt anderseits verbunden und loyal zu ihrer Ziehmutter, von der sie aufrichtig geliebt wird. Jennys Liebhaber, der erfolglose Schauspieler Jack (Stig Olin), ist ihr nachgereist. Bei einem Ball, in der Kleinstadt, macht er ihr Avancen, ganz zum Leidwesen von Ulf (Allan Bohlin), dem älteren Jugendfreund von Nelly, der sie schon lange liebt. Bei dem Ball kommt es nicht nur zwischen Jack und Ulf zum Eklat sondern auch zwischen den Erwachsenen und der Jugend, als Jack im Raum nebenan eine Jazz Session initiiert. Nelly zieht in die Großstadt, hat eine eigene Wohnung, schicke Kleider und arbeitet in Jennys Schönheitssalon. Als Ingeborg sie im Schönheitssalon besucht, fühlt diese sich völlig entfremdet. Nachdem sie mit Jenny und Nelly zu Abend ißt, verläßt sie die Wohnung und trifft auf Jack. In einem Gespräch zwischen Jack und ihr, unter vier Augen, erzählt er ihr, dass er keinerlei Liebe für Jenny empfindet und sich nur von ihr aushalten lässt. Er erzählt ihr außerdem von seinem egoistischem Narzissmus als Schauspieler und Lebemann, der sich auch in seiner „gespielten“ Liebe zu Nelly wiederfindet. Völlig niedergeschlagen und geplagt von Selbstzweifel fährt Ingeborg mit dem Zug zurück in die kleine Stadt. Kurz darauf verführt Jack Nelly in Jennys Geschäft. Sie werden dabei von Jenny ertappt und es kommt zu einem wilden Disput, der mit Jacks Selbstmord, vor dem Geschäft, endet. Nelly reist daraufhin zurück zu Ingeborg, die erneut Mut gefasst hat, den Kampf gegen ihre unheilbare Krankheit nicht aufzugeben. Ulf und Nelly begegnen sich wieder, für die sich eine gemeinsame Zukunft andeutet. 

Ingmar Bergmans Drehbuch zu Alf Sjöbergs Die Hörige (1944) brachte ihm einiges an Anerkennung ein und so kam es, dass Svensk Filmindustri, wo er als Drehbuchautor angestellt war, ihm anbot selbst Regie zu führen bei der Verfilmung eines populären Theaterstücks des dänischen Dramatikers „Leck Fischer“. Bergman bearbeitete das Stück und schrieb selbst das Drehbuch nach der Vorlage von Moderhjertet, wie das Stück hieß. Kris war weder ein kommerzieller, noch ein Kritiker Erfolg und viel in allen Belangen beim damaligen Publikum durch. 

Wenn man dieses Debut aus heutiger Sicht betrachtet und vor allem retrospektiv innerhalb unserer Reihe in das Gesamtwerk Bergmans einordnet ist es jedenfalls bemerkenswert zu sehen, wieviel Bergman schon in diesem Erstlingswerk steckt. Doch ich greife vor, denn zunächst begann unsere Unterhaltung, nachdem wir den Film Anfang des Jahres sahen, mit einer Diskussion. Andreas und ich waren uns diesmal nämlich gar nicht so einig, wie sonst innerhalb der Retrospektive. Am Ende trafen wir uns dann mehr oder weniger in der goldenen Mitte.
Auch wenn ich sagen muß, dass Kris kein vollends gelungener Film ist, da in der Tat, die Komplexität der Charaktere in diesem Drama sehr eng gestrickt ist, etwas was man in den nachfolgenden Filmen schon weitaus besser zu sehen bekommt und was nur ein paar Jahre später, ab den 50ern meisterhafte Qualität annimmt. Man könnte auch sagen, dass Kris ein Film ist der thematisch schon einiges erkennen läßt aber im Korsett eines mittelprächtigen Melodrams gefangen ist. 

„Let the Play begin. I wouldn´t call this a great or harrowing tale. It really is just an everyday drama. Almost a comedy” kündigt der Erzähler an, während Jenny mit dem Bus in der kleinen Stadt ankommt. Es ist im Grunde die kleine Welt, die hier von der großen Welt heimgesucht wird, die Ingmar Bergman in so vielen Filmen beschrieben hat bzw. der Konflikt zwischen diesen Welten. 

Ein großes Thema in Kris lautet „Kritik am Materialismus“. Ingeborg, die uns als gütige und sorgende Ziehmutter vorgestellt wird hat zu Beginn alle Hände voll zu tun sich auf listige Weise Geld zu leihen. Zuerst von ihrer Haushälterin, dann von Tante Jessi, die bei ihr im Haus wohnt. Ingeborg ist arm und verdient gerade das nötigste um sich und Nelly zu ernähren. Als Jenny die Szenerie betritt, verkörpert sie ganz und gar eine Frau mit Besitz, die Geld hat und sich Nelly auch „leisten“ kann, was im folgenden Gespräch zwischen ihr und Ingeborg auch deutlich wird ansonsten aber nicht weiter hinterfragt wird.

Noch deutlicher dagegen ist Jennys Beziehung zu Jack, dem Sohn ihres Halbbruders. Jack, der Nachtschwärmer und erfolglose Schauspieler ist ihr nachgereist, nicht weil er Sehnsucht nach Jenny hat, sondern weil ihm wieder einmal das Geld ausgegangen ist. Er hat auch keinerlei Schamgefühl, das offen auszusprechen. Jenny sieht Jack genauso wie ihre Tochter Nelly als ihren Besitz an. Ihn weil er jung und gutaussehend ist und sie weil sie ihr Fleisch und Blut ist. In der Figur von Jack kann man dann auch schon so etwas wie einen Bergman Prototyp erkennen. Der Schauspieler, der hinter seiner Maske mit seinen Narzissmen und Existenzängsten kämpft und leidet, der nur etwas „vorspielt“. Als Jack sich mit Ingeborg im Bahnhof unterhält, öffnet er sich für einen kurzen Moment und erzählt ihr von dem diabolischen Kreis in dem er sich befindet in dem er sagt, dass Jenny ihn aushält und er Nelly aushält, er aber diese oberflächliche Maske ablegen möchte, Jenny mit seinem wahren „Ich“ konfrontieren wird um ein armes Leben in Freiheit zu führen. Als er am Ende abgewrackt und ohne seinen Nadelstreifenanzug in den Schönheitssalon kommt zeigt sich sein wahres, an der Welt des Scheins zerbrochenes, Gesicht. „You bought me as a lover, cause you´re too old” raunzt er Jenny entgegen. Es ist genau diese gnadenlose Offenheit, die man auch schon in “Kris” finden kann und die zwar nicht ausgereift aber doch in Nuancen schon vorhanden ist. 

Die „Ball-Szene“ auf der Jack, Nelly betrunken macht und die Jugend im Saal nebenan versammelt um eine Jazz Party zu schmeißen, während die Erwachsenen Wiener Walzer tanzen, zeigt zum ersten Mal das ewige Aufbegehren der Jugend gegen die steifen Strukturen der erwachsenen Welt. Ein roter Faden, der sich bis zu Zeit mit Monika zieht und sich sogar darüber hinaus als Kontrast zwischen Liberalität und Konservatismus komplett durch sein Schaffen zieht. Es sind auch diese Vorkommnisse auf dem Ball, die in der kleinen Stadt ihre Runde machen, wo Nellys Benehmen als Skandal angesehen wird und sie den Entschluss fasst endgültig in die große Stadt zu Jenny zu ziehen. 
Am Ende, nach dem tragischen Selbstmord von Jack kehrt Nelly zurück. Die „kleine Welt“ hat sie wieder und wir sehen zwei Menschen, die zusammengehören. Nelly und Ulf, deren Beziehung zueinander vor allem von Nellys Wunsch nach Ausbruch geprägt war und Ulf ganz bürgerlichen Traditionen verhaftet, ihr väterliche Liebe entgegenbringt. 
 
Die titelgebende Krise ereilt hier 4 Personen. Ingeborg, weil sie ihrer Ziehtochter nicht das bieten kann, was Jenny ihr bietet und zu ihrer Krankheit sich Selbstzweifel gesellen. Nelly, die sich am Ende, nach Jacks Tod, fast das Leben nimmt und feststellen muß, das alles Lug und Trug gewesen ist. Jenny, die Jack und ihre Tochter verliert und am Ende als alte, verlorene Frau in den Spiegel blickt und Jack, der sich das Leben nimmt, weil er das ständige „Spiel“ nicht mehr ertragen kann.

Stilistisch lehnt sich Bergman in seinem Debut besonders zum Ende hin stark an den „poetischen Realismus“ an. Es gibt auch eine Szene, die an Luis Buñuel erinnert, den Bergman stets bewundert hat und die insofern stark ist, da sie die Zerrissenheit Ingeborgs filmisch visualisiert, in dem ihre Gedanken sich mit der Erinnerung vermischen und sie sich selbst in Frage stellt. 

Es ist diese Szene im Nachtexpress, die stilistisch besonders heraussticht zugleich auch die einzige Szene innerhalb des Films, wo Bergman kurz zum Kern dieser Figur der Ingeborg dringt. Vorher kann man diesen Prozess, der in ihr vorgeht nur erahnen, was an der allgemeinen manierierten Theaterhaftigkeit liegt, mit der die Personen spielen und untereinander agieren. Richtig greifbar ist hier keine Person. Gerade ein Mutter-Tochter Konflikt, wie ihn der unerwartete Herbstsonate Querverweis mit sich bringt, dass eine Mutter ihre Tochter, die sie nicht selbst aufgezogen hat , nach Jahren besucht, bleibt aus. Die Personen, auch Jack, stecken alle in einer Schablonenhaftigkeit, die meilenweit entfernt ist von der Dreidimensionalität der späteren Bergman Charaktere. Doch vieles ist eben schon da, wenn auch im Kleinen. In den Dialogen steckt teilweise eine ungeschönte Offenheit, die wiederum von klischeehafter Melodrama Inszenierung übertüncht wird und es kündigen sich Themen an, die Bergman durch sein gesamtes Werk verfolgen werden. 
 
Kris ist kein mißlungener Einstand aber einer der letztendlich eher durch seine Retrospektivität besticht als das er gänzlich überzeugen kann. Ein solides, schlichtes Melodram, welches vor allem Kasse machen sollte, aus dem man, wie oben geschrieben, eben dann doch schon etliches herauslesen kann. Zu guter Letzt ein kleiner Hinweis auf den Eintrag, den Marcos Ewert auf seinem Blog zu Kris geschrieben hat. 

5-6/10

Donnerstag, 3. März 2016

Februar 2016 Alle Filme

Hier, also mal wieder mein monatliches Filmzeitgedächtnis. Obwohl ich im Februar nicht, wie in den letzten 2 Jahren, zur Berlinale war, habe ich dennoch einiges an Filmen gesehen. Wie die letzten Male auch hier wieder nur die Liste samt Bewertungen. Auf letterboxd habe ich zu folgenden Filmen mal mehr mal weniger geschrieben : Cape Fear, Seconds, Memories of Murder, Midnight Special, Prêt-à-Porter und einige andere. Wie immer, in schlechtem Englisch nachzulesen : http://letterboxd.com/shortcut/films/reviews/

10/10 Große Liebe, Meisterwerk, mindblowing, Sternstunde
9/10 sehr, sehr gut, fabelhaft, exzellent
8/10 gut - richtig gut, nix zu meckern
7/10 gut, mit einigen Abstrichen
6/10 nja, ok, abgenickt, so lala
5/10 mittelmäßig mit einigen Momenten
4/10 mies mit wenigen Momenten
3/10 mies ohne Momente
2/10 Beschissen
1/10 Richtig beschissen
0/10 Sondermüll

* = keine Erstsichtung
(DC) = Directors Cut
(3D) = Mit Brille
(Kino) = im Kino gesehen
(short) = Kurzfilm



DodgeBall : A true Underdog Story 2004 (Rawson Marshall Thurber) 4/10
Zoolander 2001 (Ben Stiller) 7/10 * 
Twin Dragons 1992 (Ringo Lam & Tsui Hark) 8/10
Police Story 1985 (Jackie Chan) 7-8/10
Police Story 2 1988 (Jackie Chan) 7/10
The Warriors 1979 (Walter Hill) 10/10 *
Police Story – Back for Law 2013 (Ding Sheng) 2/10
Cheung Fo (The Mission) 1999 (Johnnie To) 9/10
Ko dou gai bei (Full Alert) 1997 (Ringo Lam) 8/10 *
Salinui chueok (Memories of Murder) 2003 (Bong Joon-Ho) 10/10
Madeo (Mother) 2009 (Bong Joon-Ho) 8/10 
Ssa-i-bo-geu-ji-man-gwen-chan-a (I´m a Cyborg, but that´s ok) 2006 (Park Chan-Wook) 6/10
Replicant 2001 (Ringo Lam) 4/10 *
Supernova 2000 (Thomas Lee aka Walter Hill, Francis Ford Coppola) 3/10
Snowpiercer 2013 (Bong Joon-Ho) 8/10
Take Shelter 2011 (Jeff Nichols) 9/10 *
Seconds 1966 (John Frankenheimer) 10/10 *
American Sniper 2014 (Clint Eastwood) 7/10 *
Maniac Cop 1988 (William Lustig) 6/10
China Lake (short) 1983 (Robert Harmon) 8/10 
The Hitcher 1986 (Robert Harmon) 8-9/10 *
Hail, Caesar ! (Kino) 2016 (Joel & Ethan Coen) 7/10
The Hitch-Hiker 1953 (Ida Lupino) 8/10
Autostop rosso sangue (Wenn Du krepierst, lebe ich !) 1977 (Pasquale Festa Campanile) 7-8/10 
Cape Fear 1962 (J. Lee Thompson) 9/10 *  
The Boys from Brazil 1978 (Franklin J. Schaffner) 7/10 *
All is Lost 2013 (J. C. Chandor) 7/10 *
Kes 1969 (Ken Loach) 10/10 *
The Passage 1979 (J. Lee Thompson) 5/10
The Guns of Navarone 1961 (J. Lee Thompson) 8/10
 The Ladykillers 2004 (Joel & Ethan Coen) 5/10
Zoolander 2 (Kino) 2016 (Ben Stiller) 5/10
Prêt-à-Porter 1994 (Robert Altman) 6-7/10
Orlando 1992 (Sally Potter) 8/10 *
Rage 2009 (Sally Potter) 3/10
Midnight Special (Kino) 2016 (Jeff Nichols) 8/10
Mud 2013 (Jeff Nichols) 8/10 
Witness 1985 (Peter Weir) 9/10 *
Ban wo chuang tian ya (Wild Search) 1989 (Ringo Lam) 6/10 
Missing 1982 (Constantin Costa-Gavras) 9/10 * 
Volver 2006 (Pedro Almodóvar) 8/10
Musik I mörker (Musik im Dunkeln) 1948 (Ingmar Bergman) 4/10 
Cidade de Deus (City of God) 2002 (Fernando Meirelles & Kátia Lund) 5/10
 

Mittwoch, 2. März 2016

Bergman Reihe : Saraband SE 2003



30 Jahre nach Szenen einer Ehe. Marianne (Liv Ullmann) sitzt, im Prolog, vor einem Berg von Fotografien und sinniert über sich und vergangene Zeiten. Sie denkt über ein Wiedersehen mit Johan (Erland Josephson) nach, den sie besuchen möchte. Johan lebt im Haus seiner Eltern, zurückgezogen, in der Provinz Dalarna. Als Marianne überraschend auftaucht, läßt er sich nur äußerst widerwillig auf ein Treffen mit ihr ein. Sie beschließt den Sommer über zu bleiben und gerät langsam vom Scherbenhaufen ihrer vergangenen Ehe mit Johan sogleich in den nächsten, als sich durch Gespräche die derzeitige Familiensituation Johans vor ihr auftut. In einer kleinen Blockhütte, nahe des Elternhauses, wohnen Johans Sohn Henrik ( Börje Ahlstedt), ein gescheiterter Musikprofessor und seine Tochter Karin (Julia Dufvenius), die von ihrem Vater im Cello Unterricht für die Aufnahmeprüfung an einem Konservatorium vorbereitet wird. 
Henrik nutzt seine Beziehung zu Karin schamlos, bis zum Inzest, aus. Aus falschem Ehrgeiz, seine Tochter in musikalische Höhen zu bringen, die ihm verwehrt blieben, macht er sogar Schulden bei seinem Vater um ihr ein teures Musikinstrument zu kaufen. Die Beziehung von Henrik zu Johan ist von tiefem Hass gegenüber seinem Vater geprägt, der wiederum seinem Sohn mit spöttischer Gleichgültigkeit begegnet. Karin zeigt Marianne einen Brief von Anna, der verstorbenen Frau von Henrik, deren Tod immer noch auf allen Schultern der Familie lastet. In dem Abschiedsbrief der Mutter drückt Anna das Unbehagen gegenüber der Beziehung ihres Mannes zu Karin aus und rät ihr ihren eigenen Weg zu gehen. Als Karin die Beziehungen von Johan in den Wind schlägt um an einer berühmten Akademie vorzuspielen und stattdessen nach Hamburg geht um Orchestermusikerin zu werden, unternimmt Henrik einen Selbstmordversuch auf den Johan nur mit zynischem Spott reagiert. Zwischen Johan und Marianne breitet sich, trotz einer langen Aussprache im Bett, ein Band des Schweigens aus. 
Im Epilog erörtert sie noch einmal die Geschehnisse und zeigt sich fasziniert von Anna. Sie reflektiert dies für ihr eigenes Leben und besucht ihre Tochter Martha (Gunnel Fred) im Pflegeheim, die sie seit Jahren vernachlässigt und nicht gesehen hat. 


Sarbande ist Bergmans letzter Film und zwar mit Vorankündigung. So wie Marianne am Anfang des Films über ihre damalige Beziehung zu Johan nachdenkt, so kam dem 84jährigen Ingmar Bergman auch im Sommer 2001 die Beziehung der beiden Protagonisten aus Szenen einer Ehe, in den Sinn, als er an einer Ibsen Übersetzung arbeitete. Allerdings sollte diese neue Idee keine reine Fortsetzung des großen Erfolgs von 1972 sein. Erland Josephson und Liv Ullmann, die seit langem nicht mehr vor der Kamera stand, konnte er wieder für ihre Rollen von damals gewinnen. Sein Freund und Stammkameramann Sven Nykvist dagegen war sehr schwer krank und so kam es, dass der Film, eine Coproduktion vom schwedischen Fernsehen, von 5 verschiedenen Kameramännern gefilmt wurde und Bergman seinen ersten HDTV Film drehte. Die Produktion trug zuerst noch den Titel „Anna“, nach Johans  zweiter Ehefrau, die mittlerweile verstorben war und wurde erst später zu „Sarabande“.

Der Familenstammbaum wurde neu sortiert. Aus Anna wurde die verstorbene Ehefrau von Johans Sohn Henrik. Dieser wiederum entsammt aus einer früheren Beziehung Johans, die er vor seiner Ehe mit Marianne hatte. Den Titel, dieses 4-Personen Kammerspiels, entlieh er einem barocken Tanz und erklärte, dass sein Drehbuch aus 10 Kapiteln besteht, die er nach Bachs „Kunst der Fuge“ arrangiert habe, in der jedes Instrument von gleichem Gewicht ist. Bergman läßt jeweils immer zwei Personen auftretetn und miteinander reden : Johan und Marianne, Johan und Henrik, Johan und Karin, Karin und Marianne usw. 



Über Sarabande hatte ich nicht viel gelesen und tatsächlich eine Fortsetzung von Szenen einer Ehe in dem Sinne, dass es zu einem Fazit und einer Aussprache zwischen Marianne und Johan kommt, erwartet. Dieses Fazit samt Aussprache ist auch Teil von Sarabande und genauso beginnt auch der Film, doch geht Bergman hier einen Schritt weiter indem er ein ziemlich komplexes Familienporträt zeichnet samt schwierigster Vater-Sohn-(Enkel)Tochter Beziehung. Es gibt Marianne und ihre Tochter Martha, Johan und seinen Sohn Henrik, Henrik und seine Tochter Karin, Johan und seine Enkeltochter Karin und Anna und Karin.
Bergmans letzter Film ist kein versöhnliches Alterswerk geworden. Ganz im Gegenteil zeigt er hier schonungslos die gleichen Themen wie immer ohne Verklärung oder Milde und das obwohl der Film nicht unversöhnlich endet.

Sarabande zeigt ein vollkommen zerrüttetes Familienbild. Während Szenen einer Ehe die Kinder fast vollständig aussparte und sich auf die Paarbeziehung zwischen Marianne und Johan konzentrierte, spielen hier nun die Kinder die Hauptrolle und Marianne und Johan bilden den Rahmen dafür bzw. mehr noch Marianne. Sie ist die Führerin durch diese Eltern-Kind-Beziehung. Die Beobachterin, die für sich und für uns als Zuschauer eine Erkenntnis aus den Ereignissen zieht und am Ende für sich handelt. Bergman geht hier mit diesem Rahmen, was das Medium angeht, nicht so selbstreflexiv um, wie in Die Stunde desWolfs. Hier, in Prolog und Epilog, dient die direkte Ansprache in die Kamera in sehr persönlichem Sinne dazu, um besonders die Stellung Mariannes kenntlich zu machen, die uns weniger als Akteurin sondern mehr als zweiter Zuschauer durch die Geschehnisse leitet um sich selbst Bewusst zu werden. 
Wie schon in früheren Filmen beschreibt Bergman wieder einmal eine Welt in der die Menschen nicht mehr fähig dazu sind richtig zu leben und sie ohne Liebe in eine tiefe Orientierungslosigkeit fallen. In diesem Trübsal gibt es aber einen Menschen, innerhalb der Familie, zu dem alle aufblicken.

 Es gab Anna und es gab Annas Liebe. 

Wie in Schreie und Flüstern ist es auch hier „Annas Liebe“, die den Personen einen letzten Halt gewährt, doch hier ist dieser Halt nur noch eine Erinnerung. Da ist Karin, die die Liebe der Mutter und ihre Verbundenheit erlebt hat und die dann in dem Abschiedsbrief erfährt, wie sehr ihre Mutter sie liebt, in dem sie ihren Mann Henrik bittet ihr Kind freizugeben. Selbst Johan wird aufrichtig wenn er an Anna denkt und Henrik verliert sich in Suizidgedanken und stürzt sich noch mehr in die unheilvolle Beziehung zu seiner Tochter. 


Anna hatte die Fähigkeit zu lieben. Ihr Verlust wirft die Menschen in Sarabande zurück in die Kälte. Es ist diese Liebe gewesen, die das einzig humane, sinnstiftende und lebendige in dieser Familie war. Ohne diese Liebe scheitern alle und dies zeigt Bergman konsequent. Als Karin wirklich ihren eigenen Weg geht um das Erbe ihrer Mutter anzutreten, ist dies nur ein kleiner Lichtblick. Henrik ihr Vater scheitert und ist dabei in seinem Scheitern seinem Vater sehr ähnlich. Fast schon wie eine Karikatur von Johan, der anders als Henrik eine Art Schutzmechanismus über die Jahre aufgebaut hat, der aber nur auf sein verkommenes Inneres verweist. Genauso wie Henrik seinen Vater hasst, verachtet Johan seinen Sohn. Er verachtet dabei das, was er im Grunde selbst ist, schwach und hilflos. Nur die innere Kälte und Härte hält ihn noch am Leben. Henrik wirft sich in seiner Unfähigkeit auf seine Tochter und Bergman deutet diese fehlgeleitete Vaterliebe als inzestuöses Verhältnis an.



Gleich zu Beginn des Films schildert Karin, Marianne in einer Rückblende das Verhältnis zu ihrem Vater. In der kleinen Hütte kommt es während sie mit ihrem Vater probt zu einem heftigen Streit, der damit endet, dass ihr Vater versucht sie zu vergewaltigen. Es ist die erste Szene in der wir Henrik zu Gesicht bekommen, vor einer roten Wand, die als Karin im Nachthemd in den Wald hinausläuft, sich als Tür entpuppt. 

 Bergmans rote Seelenwände aus Passion, Schreie und Flüstern und Fanny & Alexander

 öffnen sich und werden zu einem Verweis auf Die Jungfrauenquelle, der ebenfalls in der Provinz Dalarna gedreht wurde. 

So wie Johan Henrik seine Liebe verweigert, hat Marianne jahrelang ihrer Tochter die Liebe verweigert, was wir nur aus Gesprächen erfahren. Marianne beschreibt ihre Tochter Martha zweimal als einen Menschen, der sich völlig in sich zurückgezogen, total isoliert hat und sagt über sie :“Sie erkennt mich nicht einmal.“ Bergman zeigt das Bild eines Menschen, der ohne Liebe, ohne Berührung verkümmert und nicht leben kann. Dabei ist die „Berührung“ am Ende des Films keine Geste sondern kommt einem Erleben von Lebendigkeit gleich, der einzige Weg sich selbst zu spüren. „Ich habe meine Tochter berührt“ ist das, in den letzten Jahren, sich Bewusst werden von Liebe über die Erkenntnis.



Wenn man die Liebe, die in Bergmans Filmen, besonders in denen mit religiösen Motiven, als abwesend betrachtet, ist besonders die Szene in der sich Marianne und Henrik in der Kirche treffen, faszinierend, da diese Szene im Grunde auf etwas Inneres, ein Gefühl verweist, sich nach einer Art von Wärme zu sehnen, besonders nach dem zuvor verlaufenden Gespräch zwischen den beiden. Welches zuerst freundlich beginnt um dann als sie Henriks Einladung zum Essen zu kommen ablehnt, vollkommen aus der Kurve gerät und Henrik sofort sein gesamtes Auftreten ändert um schmierig und indiskret gegenüber Marianne zu werden. Die ganze Haltlosigkeit und Verletztheit  Henriks wird hier nochmals deutlich aber eben auch zuerst die warme Seite des Mannes, der in der Kirche Bach spielt. Marianne kommt in die Kirche, nicht aus einem bestimmten Grund, sondern weil auch sie das Gefühl hat, Halt zu suchen und trifft ganz zufällig auf Henrik, was nochmal ihre Rolle als Beobachterin verstärkt. Nachdem Henrik gegangen ist, sieht Marianne sich über dem Altar das Bild des „Abendmahls“ an, hält inne und betet. Es ist diese Suche nach Halt, die diese Szene auch an Licht im Winter erinnern läßt.

Diese Suche nach Halt spiegelt sich hier ganz besonders in der Musik wieder, die innerhalb des Films oft diegetisch sowie nichtdiegetisch eingesetzt wird. In dieser Bergman typischen Abwesenheit von Liebe, von Gott fungiert die Musik wie ein letzter Rettungsanker. Ähnlich wie der Einsatz von Bach in Das Schweigen, als alle im Hotel gleichsam auf diesen Anker im Raum reagieren, steht die Musik für die Suche nach Halt und alle geben sich hier der klassischen Musik auf unterschiedlichste Weise hin. Auch Johan, der sich in seinem Haus in voller Lautstärke in sie vertieft als er bei Bruckners 9. Sinfonie fast in den Boxen verschwindet, könnte man dies im höheren Sinne als religiös begreifen, da diese unvollendete Sinfonie dem „lieben Gott“ gewidmet ist. Doch Bergmans Filme sind nicht religiös. Er beschreibt nur wofür diese Musik steht. Für Sinn, Erkenntnis, Halt in einem Leben, wo all dies verloren gegangen ist. 

Johan, der vollkommen entfremdet von der Wirklichkeit fragt, was denn seine beiden Töchter machen, wird am Ende vom nackten Wind der Gottlosigkeit dahingeworfen. Es ist dieStunde des Wolfs in der dem zynischen Misanthropen der nackte Angstschweiß über die Glieder fährt und er sich hilflos, wie ein Kind, seiner Kleider entledigt um Wärme bei Marianne im Bett zu suchen. Auch hier ein Verweis auf das Ende von Szenen einer Ehe.
Doch der Graben zwischen ihnen ist mittlerweile durch die vielen Gespräche und Geschehnisse zu tief und so breitet sich zwischen ihnen ein langes, anhaltendes Schweigen aus.
Marianne reflektiert, im Epilog, die Wochen mit Johan und ist fasziniert von der Ausstrahlung, die Anna auf die Familie hatte. Sie zieht ein Fazit für sich und besucht ihre Tochter Martha um zu einer Erkenntnis von Liebe zu kommen.

Auch in Sarabande sind die Themen wie Alter, Tod und Sterben omnipräsent und Bergman behandelt sie hier mit der gleichen Intensität und Offenheit wie in all seinen Filmen und doch ist dieser Film wärmer, im Grunde ein Alterswerk im doppelten Sinn, was hauptsächlich an der Figur von Marianne liegt, die uns durch dieses Jammertal leitet und als einzige bereit ist eine Erkenntnis zu machen. Bergmans letzter Film ist auch kein Film, der durch seine Ästhetik besticht. Die Kamera ist hier so gut wie nicht vorhanden, was durchaus zum Nachteil gerät aber dennoch nicht weiter stört, da Sarabande mit seinen vielen Querverweisen innerhalb der Dialoge und seinen überbordenden Bergman Themen überzeugt.  Sarabande blieb auch Bergmans letzter Film. Im Alter von 89 Jahren starb Ingmar Bergman am 30. Juli 2007.

7-8/10

Sarabande ist zwar Bergmans letzter Film und eigentlich müßte damit auch diese Reihe, die ich mit Andreas seit 2013 bestreite, zu Ende sein, doch sie ist es nicht. Wer vielleicht in meinen letterboxd Einträgen oder innerhalb der Monatslisten gesehen hat, fangen wir nochmal von vorne an und arbeiten uns chronologisch durch alle Filme Bergmans, die uns zum damaligen Zeitpunkt noch nicht zur Verfügung standen. Bald heißt es also hier auf shortcutstotale : Bergman revisited.

Wie immer hinke ich den Einträgen hinterher. 4 Filme haben wir schon gesehen. Demnächst dann Bergmans Debut Film „Kris“ von 1946.